Poesie und Wissenschaft

Wer sich etwas eingehender mit den Erben der Großen Seidenstraße und ihrem Vermächtnis beschäftigt, wird überrascht sein zu erfahren, in welchem Umfang gerade die kulturellen Leistungen dieser Völker beispielsweise in der Dichtung und in der Wissenschaft auch und gerade auf das Abendland eingewirkt haben. Rückschauend ist zu beobachten, dass sich unter den Samaniden und Karakhaniden – aber auch unter den Timuriden und ihren Nachfolgern, den Schaibaniden und Mangiten – neben der Architektur auch die bildende und angewandte Kunst sowie die Literatur und Wissenschaft immer dann besonders fruchtbarentfalten konnten, wenn die Zeiten relativ stabil waren und die religiösen und politischen Machthaber den Künstlern den Freiraum gewährten, der für jedes kulturelle Schaffen unabdingbare Voraussetzung ist.

Mit dem Eindringen des Islam in Zentralasien hat sich natürlich auch die arabische Schrift mehr und mehr durchgesetzt, und was einst in sogdischer Schrift (der Schrift von Samarkand), in Uigurisch oder einem mitteliranischen Dialekt des Choresmischen dargelegt worden war, verschwand im Lauf der [ahrhunderte zugunsten der Sprache des Koran. Auch das altvertraute Persisch wandelte sich durch die Integration von arabischen Wörtern ins Neupersische und wurde fortan ebenfalls in arabischen Schriftzeichen geschrieben. Zuerst waren es die Sagen und Märchen, die ins Arabische übersetzt wurden, aber bald gab es auch völlige Neuschöpfungen, vor allem Gedichte – z. B. Vierzeiler des Versschemas «aaba», das r u b a i  -, die sich allgemeiner Beliebtheit erfreuten. Transoxanien gehörte neben Chorasan zu den Ländern, in denen sich die Dichtkunst am frühesten und erfolgreichsten entfalten konnte.

Wenigstens einige besonders hervorragende Dichter und Schriftsteller sollen im Folgenden vorgestellt werden, wird doch jeder Zentralasien-Reisende mit dem einen oder anderen Namen – sei es in Chiwa, Buchara oder Taschkent – konfrontiert werden.

Rudaki (941), der Sultan der Dichter, lebte am Hof der Samaniden und war als einer der bedeutendsten Dichter des frühen Mittel alters schon zu Lebzeiten für sein sprichwörtlich hohes Honorar berühmt. Angeblich soll er über 1 300 000 Verse verfasst haben, von denen aber nur einige Tausend überliefert und bekannt sind. Sein umfangreichstes Werk war die Bearbeitung des Fabelbuches «Kalila und Dimna», das – einige Jahrhunderte später – Goethe als Vorlage für seinen «Reineke Fuchs» dienen sollte. Sein Grab befindet sich unweit von Pendschikent (Tad ).

Abu Mansur Muhammad Dakiki ( f 952?) war ein angesehener Dichter, der sich offen zur Religion Zarathustras bekannte. Unermüdlich hatte er das umfangreiche Material der iranischen Königssagen gesammelt und bereits annähernd 1000 Verse gedichtet, als er wenn man der Überlieferung folgen will – bei einer nächtlichen Liebesaffäre plötzlich vom Tod dahingerafft wurde.

Ferdausi aus Tus in Chorasan (932-1020?), übernahm das Werk von Dakiki und arbeitete es zu dem berühmten Epos «Schah-name» (Königsbuch) aus, das 60000 Doppelverse (siebenmal mehr als Homers «Ilias») umfasst. Kern dieser Dichtung, an der Ferdausi 35 Jahre gearbeitet haben soll, ist der Kampf zwischen Gut und Bose –  zwischen den Sesshaften (Iran) und den Nomaden (Turan), wobei

die epischen Überlieferungen aus Sogd, Choresm und Baktrien die Hauptquellen für dieses beispiellose Gedichtwerk bildeten.

 

Sijawusch hat einen Traum

In trüber Ahnung, von dem Schicksal bang,

Verbrachte Sijawusch drei Tage lang;

Die vierte Nacht entschlief er, müd vom Harm,

In seiner lieblichen Ferengis Arm;

Da plötzlich schrak er auf, wild rann sein Blut,

Er brüllte wie ein Elephant in Wuth,

Und als Ferengis mit dem Arm ihn fester

Umschloss, und fragte «Weh, was hast du, Bester?»

Rief er nach Licht und schrak nochmals zusammen.

Man schärte Ambra, Sandelholz zu Flammen

Und wieder fragt Afrasiabs Tochter ihn:

«Sprich, weiser Fürst! Was dir im Traum erschien?»

(aus: Ferdausi, «Schah-name»)

Omar (ibn) Chaijam (1043-1123?), der «Sohn des Zeltmachers», eine vielseitig gebildete Persönlichkeit, hatte das Glück, über seinen Jugendfreund und späteren Wesir vom Sultan selbst gefordert zu werden. Zur Durchführung seiner wissenschaftlichen Arbeiten erhielt er ein recht ansehnliches Stipendium – ein frühes Beispiel einer staatlich anerkannten und geforderten Forschung! Er war der erste Astronom und Mathematiker seiner Zeit, stellte eine neue Zeitrechnung auf und erwies sich auch als ein ungewöhnlicher Dichter. Besonders berühmt geworden sind seine Vierzeiler, scharf geschliffene Aphorismen. Er dichtete ohne Rücksicht auf den Hof oder die Religion – und wurde zu ihrem gefährlichsten Feind.

 

Ein Winter geht, ein Frühling kommt, jahraus, jahrein. a

Des Daseins Buch, wie bald wird es durchblättert sein! a

Die Sorge ist der Erde Gift! Der Weise spricht: b

»Das Gegengift heißt: Sorg dich nicht und trinke Wein!« a

(Omar Chaijam – r u b a i  im Versschema aaba)

 

Nezami (* 1130), ebenfalls ein Dichter, war im Gegensatz zu Omar Chaijam streng religiös, verachtete den Wein und schrieb vornehmlich Liebesgedichte, unter denen «Layla und Madschnun» besonders berühmt und beliebt war.

Dschalaleddin Rumi (1207-73), der Gründer des Ordens der tanzenden Derwische, hatte sich auch als Mystiker und Dichter einen großen Namen erworben. Seine Doppelverse ( M a t h n a w i ) – im Aufbau und Ausdruck den Psalmen nicht unähnlich – sollten sich für die Mystiker späterer Generationen als eine wahre Fundgrube, als ein «Koran in persischer Sprache» erweisen.

Ali Schir Nawai (Alisher Navoi, 1441-1501) gilt als der Begründer der usbekischen Literatur. In seinen Werken kommt nicht nur seine Liebe zum Menschen zum Ausdruck, sondern auch sein Einsatz. für eine bessere Welt: »Wenn deinem Volk du Nutzen bringst, so wisse, dass du dir selbst dadurch am meisten nutzt.« Er stammte aus einer reichen Familie aus Herat und lebte längere Zeit in Meschhed und Samarkand. Ein Großes ererbtes Vermögen machte ihn nicht nur vom Hof unabhängig – er unterstutzte auch seine Freunde und ließ zahlreiche Wohnsiedlungen errichten. Weit über 27 000 Verse (in Türkisch und Persisch) sind überliefert, in denen er harte Kritik an der Verlogenheit und Heuchelei seiner Umwelt übt und die Sultane angreift. Auch  führte er persische Stoffe in die türkische Poesie ein und bemühte sich, die Überlegenheit der türkischen Sprache über das Persische zu beweisen – was kein türkischer Schriftsteller in Kleinasien gewagt hatte. Heute feiern Usbeken und Turkmenen gleichermaßen Ali Schir Nawai als ihren Nationaldichter.

Die Anfange einer Literatur, die spezifisch den heute bestehenden Republiken zuzuordnen wäre, verließen sich vielfach in ferner Vergangenheit und gehen nicht selten auf dieselben Quellen zurück. Unter den usbekischen Dichtern verdienen außer den bereits genannten Klassikern die modernen «Aufklarungsdichter» Furkat (1858-1909) und Mukimi (1851-1903), aber auch Autoren wie Alimjan, Gafur Gulam, Jaschen, Kadri, Kakhkhar, Muchtar Oripow, Oybek, Raschidow und Zulfia besondere Beachtung.

In der turkmenischen Literatur wurden vor allem die Werke des «Turkmenischen Klassikers» Magtymguli (1733-82) und die seiner Schüler Kemine (1770-1840) und Mollanepes (1810-62) berühmt. Von den neueren Schriftstellern erhielten Kerbabajew (1894-1974). Kauschutow (1903-53) und Kekilow (1912-94) weite Anerkennung.

Die kasachische Literatur hat ihren Begründer in Abai Kunanbajew (1845-1904). Zu den modernen Schriftstellern einer Prosa- und Bühnenliteraturgehören u.a. Gabiden Mustafin (* 1920) und Saken Seifullin (1894-1939) sowie Muchtar O. Auesow (1897-1961), der durch seine Bucher «Abai», «Vor Tag und Tau» und «Über Jahr und Tag» auch über die Grenzen Zentralasiens hinaus bekannt geworden ist.

Sadriddin Aini (1878-1954), der erste Präsident der Akademie der Wissenschaften von Tadschikistan galt als der Vater der tadschikischen Sowjetliteratur. Durch seine Romane, Erzählungen und literaturhistorischen Werke («Der Tod des Wucherers», «Die Sklaven», «Buchara» u.a.) erwarb sich Aini internationale Anerkennung.

Eine typisch kirgisische Literatur. die auf ihrer sehr umfangreichen Volksdichtung gründet («Manas», mit etwa 1 Mio. Versen das längste Werk einer Volksdichtung), begann – wie die kirgisische Schriftsprache – erst nach der Oktoberrevolution, und Tokambajews Gedicht «Epoche des Oktobers* galt als das erste Werk der geschriebenen kirgisischen Literatur. Unter den zeitgenössischen Autoren Kirgistans hat vornehmlich Tschingis Aitmatow (1928-2008), der große Erzähler, nicht nur in seiner Heimat, sondern auch international Anerkennung gefunden («Dshamila» (1958), «Der weiße Dampfer» (1970), «Der Richtplatz» (1986), «Der Schneeleopard» (2007) u.a.). »Der Mensch«, sagt Aitmatow, »sucht in der Kunst die Bestätigung seiner besten Bestrebungen und die Ablehnung alles Bösen und Ungerechten, das seinen sozialen und sittlichen Idealen widerspricht. Das geht nicht ab ohne Kampf, Zweifel und Hoffnung. Und das wird wohl immer so bleiben. Deshalb hat die Kunst ständig die Aufgabe, den Menschen von der Kompliziertheit und Schönheit des Lebens zu erzählen …« (zitiert nach Maas, Bronski: Mittelasien. Leipzig 1979).

Aber auch im Bereich der Wissenschaft hat Zentralasien immer wieder bedeutende Persönlichkeiten hervorgebracht. Mit unbeschreiblichem Eifer setzt sich z. B. Al Mamun, einer der drei Söhne von Harun ar Raschid, für die Wissenschaften ein, nachdem er im Jahr 813 Kalif geworden war. Er gründete das «Haus des Wissens», eine jeweils an eine Moschee angegliederte Akademie, die sich vor allem der Übersetzung griechischer Literatur ins Arabische widmete. Die Astronomie, Medizin und Mathematik des Altertums waren nahezu lückenlos erfasst, und Aristoteles galt bald ebenso als Quelle der Weisheit wie der Koran. Aber auch Wissenschaftler, die neue Wege beschritten, erfreuten sich der Gunst Al Mamuns.

Zu den bedeutendsten Gestalten in der wissenschaftlichen Umgebung des Kalifen gehörte auch Muhammad ibn Musa al Choresmi (Mohammed, Sohn des Musa aus Choresm), geboren etwa 783 in Choresm. Er war einer der besten Mathematiker seiner Zeit, und der Zufall der Geschichte hat ihn gleich in zweifacher Hinsicht unsterblich gemacht. Sein Beiname al Choresmi lebt auch heute noch im Wort Algorithmus fort, und der Titel eines von ihm verfassten Buches «Kitab min hisab al-gabr wa’l mulqabala» wurde zu einer wissenschaftlichen Fachbezeichnung, zu Algebra. Muhammad hat als Erster ein allgemeinverständliches Lehrbuch über das Rechnen mit Dezimalzahlen geschrieben und dieses Rechenverfahren auch zur Aufstellung von astronomischen Tabellen benutzt. Ebenso gab er zum ersten Mai genaue Anweisungen über die Folge von Rechenschritten (Algorithmus), die mit Sicherheit zur Losung einer Aufgabe, zum Beispiel einer quadratischen Gleichung, fuhren. 847 starb al Choresmi, ein Wissenschaftler, der dank seines Großen Förderers Al Mamun schon bei seinen Zeitgenossen anerkannt und berühmt gewesen ist.

Abu Ali al Husain ibn Abdullah ibn Sina (980 1037), geboren in Afschana bei Buchara, war vermutlich der größte Universalgelehrte, Philosoph, Naturforscher, Arzt («Der Medikus») und Staatsmann, den der Orient je hervorgebracht hat. Die theoretischen Grundlagen seines Wissens erwarb er sich als eifriger Benutzer der prachtvoll ausgestatteten Bibliothek des Samaniden Herrschers Nuh ibn Mansur (976-997) in Buchara. Wie schon sein Lehrer Al Farabi hat es ibn Sina – in Europa unter dem Namen Avicenna bekannt – meisterhaft verstanden, griechische Kultur und Ideenwelt in das Samanidenreich einzubringen, das wiederum dank seiner hervorragenden wissenschaftlichen und literarischen Leistungen einen nicht unwesentlichen Beitrag zur Weltliteratur liefern konnte. Neben seinen philosophischen Betrachtungen und Kommentaren zu Aristoteles erreichte vor allem sein medizinisches Handbuch weltweite Anerkennung, das, in viele Sprachen übersetzt auch ins Lateinischeerst im 17. Jh. überholt war.

Wie aus seinen Gedichten hervorgeht, war Avicenna nicht nur ein Fatalist, der den freien Willen des Menschen leugnete, sondern auch ein Skeptiker, der (im Gegensatz zum Mystiker) stets seinen Verstand in den Vordergrund stellte. In seinem «Kanon» preist er den Wein als edelste Gabe Gottes und meint, wenn man ihn maßvoll trinke, wirke er als Arznei. Eigentlich, so ibn Sina, dürften nur der König, ein Arzt oder ein Lump Wein trinken der König darf tun, was er will, der Arzt trinkt verständig, und dem Lump steht die Trunkenheit an.

Das Leben von Al Biruni (973-1048), geboren in Kath, der Hauptstadt von Choresm, war bei weitem nicht so ereignisreich wie das Avicennas. Über seine Familienverhältnisse, seine Lehren und seine Ausbildung ist nichts bekannt. Mit Avicenna, der damals in Buchara lebte, korrespondierte Al Biruni über den Lauf der Welt sowie über physikalische und mathematische Probleme. Hinsichtlich seiner Kenntnisse in der Mathematik, Astronomie, Geographie und Physik soll Al Biruni sogar den berühmten Ptolemäus (87-165) weit überragt haben. Bereits im Jahr 1018 hatte er den Erdradius mit 6338,8 km errechnet und wich damit nur um 0,5% vom tatsachlichen Wert ab – eine Leistung, die unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Als ein Wissenschaftler von Rang verfertigte Al Biruni lange vor Ulughbek astronomische Tabellen (s. S. 219), befasste sich eingehend mit Algebra, studierte systematisch Metalle und Steine und bestimmte sogar deren Wichte. Heute gilt Al Biruni als einer der letzten großen Enzyklopädisten des gesamten mittelalterlichen Orients, die die Richtung für die künftige Entwicklung der angewandten Wissenschaften aufgezeigt haben. Und während in Zentralasien – beispielsweise in Buchara – den Wissenschaftlern und Studenten Bibliotheken mit einigen tausend Büchern zur Verfügung standen, waren in Europa Sammlungen von auch nur einigen hundert Bänden immer noch eine Seltenheit.