Auch nach 70 Jahren sozialistischer Aufklarungsarbeit ist die Großfamilie, zu der neben den Eltern und Kindern auch die Großeltern und unversorgte Familienmitglieder gehören, nach wie vor der zentrale Angelpunkt einer jeden Gemeinschaft, von der das Wachsen und Werden eines Staates gerade hier an der Grenze zwischen Orient und Okzident – abhängig ist. Während die Schwiegertochter sich durch die Heirat in die Obhut der Schwiegereltern begeben, bleiben die verheirateten Sohne und deren Kinder unter der Fürsorge der Eltern. Nur in Ausnahmefallen, z. B. nach einer Scheidung, kehrt die Tochter in das elterliche Haus zurück. Mittelpunkt im täglichen Lebensablauf ist das gemeinsame Essen, zu dem sich nach Möglichkeit alle Familienmitglieder zusammenfinden. Hier werden Alltagsprobleme besprochen. Haushaltsfragen erörtert, Feste vorbereitet, Streitigkeiten geschlichtet, Zukunftsplane entwickelt.
Sitten und Bräuche, die sich über Generationen bewahrt haben, werden in den Familien gepflegt und an die nachrückende Generation weitergegeben. Und wenn heute aufgrund wirtschaftlicher Notwendigkeiten unverheiratete Söhne oder Töchter den Familienverband vorzeitig verlassen müssen, um andernorts einer Beschäftigung nachzugehen, versuchen sie die Kontakte zu ihrer Familie weitestgehend aufrechtzuerhalten und sobald als möglich zurückzukehren. Ob und wie gerade die Familien die auf sie zukommenden Belastungen auf ihrem Weg in eine freie Marktwirtschaft nach westlichem Muster werden bewältigen können, wird sich als die Kernfrage schlechthin für die Entwicklung und den Fortbestand der Völker Zentralasiens erweisen.
Hoch im Kurs steht die Nachbarschaftshilfe im Dorf oder Stadtviertel, wenn es etwa gilt, in Not geratenen Familien zu helfen oder wenn Aufgaben von allgemeinem Interesse rasch und zuverlässig durchgeführt werden sollen – Instandsetzung des weitverzweigten Kanalsystems, Einbringen der Ernte usv. Im Allgemeinen ist es der «Älteste», der «Weißbärtige», der Aksakal, eines Dorfes oder eines Stadtbezirks, der Mahalla, den man um Hilfe bittet und der die Arbeiten koordiniert. Keiner wird sich seiner Verantwortung entziehen, sondern jeder wird sich entsprechend seinen Fähigkeiten an der gemeinsamen Aufgabe beteiligen; auch die Kinder, indem sie ständig Kannen mit frisch gebrühtem grünen Tee herbeischaffen.