Zentralasien in Zeugnissen und historischen Reiseberichten

Um Zentralasien, wie es sich heute darstellt, in seiner Vielfalt verstehen zu können, ist ein – wenn auch nur skizzenhaft durchgeführter – historischer Ruckblick eine notwendige Voraussetzung. Wer beispielsweise heute nach Pendschikent oder auch nach Merw reist, um alten Kulturen nachzuspüren, wird ohne entsprechende Hintergrundinformationen und ohne Wissen um den Kanon der Geschichte Zentralasiens Mähe haben, einen graubraunen Sandhügel als den Palast eines sogdischen Herrschers oder einige Mauerreste – alter als 1001 Nacht – als die unter den Seldschuken errichtete «Relaisstation für Brieftauben» zu erkennen.

Obwohl Spuren menschlicher Siedlungen bis weit in die Steinzeit zurückreichen, gehört die alte, die vorislamische Geschichte Zentralasiens bis heute noch zu den am wenigsten erforschten Gebieten der altorientalischen Völker. Gerade hier im Zentrum von Eurasien entstand aber schon vor Jahrtausenden eine herausragende Kultur, die wegen fehlender Beweise und Zeugnisse vielfach nur als Randkultur abgetan wurde. Eine Ursache für diese Wissenslücken ist sicher auch darin zu suchen, dass gerade dieses Gebiet zwischen Kaspischem Meer und Pamirgebirge wiederholt von Verwüstungen großen Ausmaßes heimgesucht worden ist, bei denen oft ganze Völker und mit ihnen ihr Bestand an Kunst- und Kulturgütern untergegangen sind. Dank neuer wissenschaftlicher Methoden und Erkenntnisse, deren sich Historiker und Archäologen heute bedienen, ist es gleichwohl möglich geworden, auch jahrtausendealte Anlagen und Gegebenheiten zu rekonstruieren, um ein recht zuverlässiges, transparentes Bild von der Vergangenheit Zentralasiens zu zeichnen. Nicht selten gleicht aber ihre Arbeit einem überdimensionalen Puzzle-Spiel, bei dem wichtigen Verbindungselementen irgendwann verlorengegangen oder auch durch unpassende ersetzt worden sind. Sehr erleichtert hingegen wird die Arbeit der Archäologen durch die Verwendung von Luftaufnahmen, die nicht selten völlig unbekannte, unter dem Sand der Wüste begrabene Siedlungen oder auch Flusslaufe und Kanalnetze erkennen lassen und alte Geschichte wieder erfahrbar machen.

Ein Abriss dieser Geschichte zeigt, dass die politische Lage damals und in der Folgezeit oft über Jahrhunderte hinweg verworren und in vieler Hinsicht undurchschaubar war, weshalb die historischen Berichte gerade über dieses Land jenseits des Oxus (Transoxanien) nicht selten unglaubwürdig und voller Widerspräche sind.

Bei den griechischen und römischen Geschichtsschreibern gibt es nur wenige Hinweise über die Bewohner Zentralasiens in der Antike. Herodot (gestorben um 425 v. Chr.) darf mit Sicherheit zu den frühesten Reisenden gezählt werden, die aufgrund persönlich gesammelter Erfahrungen sowie eines intensiven Quellenstudiums zuverlässige Informationen über Zentralasien, seine Bevölkerung und ihre Lebensbedingungen überliefert haben. So findet man z. B. in seinen Büchern interessante Berichte über Bewässerungsprobleme und – verfahren, über die harten Tributleistungen der besetzten Gebiete an die Perser sowie über das Leben der Nomadenstamme. Über religiöse Kulthandlungen, wie sie in der Zeit vor Zarathustra auch in Zentralasien üblich waren, schreibt Herodot: »Bildsäulen, Tempel und Altare sind unter den Persern nicht gebräuchlich. Ja sie strafen sogar diejenigen, die solche errichten, und zwar, wie ich glaube, weil sie sich die Götter nicht, wie die Hellenen, unter menschlichen Gestalten vorstellen. Sie bringen ihre Opfer der Sonne, dem Monde, dem Feuer, dem Wasser und den Winden«.

Als unter den Arabern wieder eine gezielte Geschichtsschreibung einsetzte, wurde viel wertvolles Material durch wiederholtes Ab- und Umschreiben im Laufe der Jahre stark verfälscht. Daher erhalten gerade die zeitgenössischen Berichte, die sich auf eigene Beobachtungen und Erfahrungen stützen, eine besondere Bedeutung. Einerseits können sie einen wichtigen Beitrag zur Klärung von Fragen und Widersprächen leisten, andererseits liefern sie nützliche Randinformationen im Rahmen einer gezielten Forschungsarbeit.

Al Biruni (973-1048), ein choresmischer Gelehrter und einer der bedeutendsten islamischen Schriftsteller, berichtet in seinem Buch «Chronologie Orientalischer Völker» eingehend, wie Kutaiba im Jahre 712 die wissenschaftliche Literatur der Choresmier auf barbarische Weise vernichten und ihre Gelehrten ausrotten oder vertreiben ließ. Makdisi (10. Jh.), der wohl größte Geograph aller Zeiten, hat das Land und das Leben in Zentralasien so exakt beschrieben, dass seine Auskünfte zu den wichtigsten Unterlagen der Kulturgeschichte des Ostens gehören. Johann de Piano Carpini (um 1245) besuchte als päpstlicher Gesandter Zentralasien und verfasste die «Historia Mongolarum», eine kritische Auseinandersetzung mit dem Reich der Mongolen.

Marco Polo (1254-1324) berichtet von seinen Reisen nach China über die Stadt Samarkand: «Samarkand ist eine vornehme Stadt, geschmückt mit schönen Garten und umgeben von einer Ebene, in der alle Früchte wachsen, die man sich nur wünschen kann. Die Einwohner, teils Christen, teils Mohammedaner, sind dem Neffen des Großkhans untertan; doch sind die Beziehungen zwischen beiden

Parteien nicht freundschaftlich, sondern es herrscht ständiger Kampf und Krieg«.

Hermann Vambery, ein ungarischer Gelehrter, wanderte 1863, wenige Jahre vor der Besetzung Zentralasiens durch die Russen, als  Derwisch verkleidet durch die turkmenische Wüste nach Chiwa, Buchara und Samarkand. In seinem Buch «Reise in Mittelasien» berichtet er ausführlich über die dort lebenden Völkerschaften. Über Chiwa und das Leben unter einem Emir, »dessen Grausamkeit selbst die Tataren missbilligten«, schreibt Vambery: »Wie mir am 3. Juni vor den Thoren Chiwas zu Muthe war, wird der Leser sich vorstellen können. … Ich hörte, dass der Chan alle verdächtigen Fremden zu Sklaven machte, dass er dies erst unlängst mit einem Hindustaner von angeblich fürstlicher Abkunft hat, der jetzt wie die übrigen Sklaven zum Schleppen der Kanonenwagen bestimmt war. … Am nächsten Tag sah ich wirklich gegen 100 Reiter mit Staub bedeckt aus dem Lager ankommen. Jeder führte einige Gefangene, darunter auch Kinder und Weißer, entweder an den Schweif des Pferdes oder an dessen Sattelknopf gebunden mit sich, außerdem hatte er einen Großen Sack hinter sich aufgeschnallt, der die abgehauenen Feindeskopfe, Zeugen seiner Heldentaten, enthielt. Auf dem Platze angekommen gab er die Gefangenen, die er dem Chan oder einem Großen zum Geschenk brachte, ab, band den Sack los, fasste ihn an zwei Enden, und als wenn Erdapfel ausgeschüttet werden, so rollten die bärtigen und bartlosen Kopfe vor den Protokollführer hin, dessen Diener sie mit den Füßen zusammenstieß, bis ein Haufe von einigen Hundert aufgehäuft war. Jeder Held bekam eine Quittung über abgelieferte Köpfe, und einige Tage später erfolgte die Auszahlung. Trotz aller Rauheit der Sitten, trotz all dieser Szenen habe ich in Chiwa und seinen Provinzen in meinem Derwischincognito die schönsten Tage meiner Reise verlebt.«

Egon Erwin Kisch, der «rasende Reporter», durcheilte 1930 mehrere Sowjetrepubliken. Über seine Eindrücke in Buchara, zehn Jahre nach der Flucht von Alim Khan, dem letzten Emir von Buchara, schreibt er: »Die Knute auf dem Tor der Burg, die Kerkerzellen an ihrer Rampe und die Verließe des Sindan sind Museumsobjekte geworden. Die Christen brauchen nicht in Kagan, die Juden nicht in Machallah zu wohnen, blanke Knaben nicht die Gunst des Emirs und der Beys zu fürchten. In den Schulen sitzen die Kinder auf Bänken und lernen Naturwissenschaft, was dem Koran widerspricht. Ein Park schmückt die Fläche, auf der vor 60 Jahren Europäer als Sklaven feilgeboten wurden, und dort, wo noch vor zehn Jahren Revolutionäre geköpft wurden, streckt sich ein Wasserturm in die Hohe, das «Sowjet-Minarett».

Hans Werner Richter, Initiator der Gruppe 47, reiste 1965 durch Zentralasien und folgte auf seiner Reise den Spuren von Kisch. Er beschreibt in seinem Buch «Karl Marx in Samarkand», wie sich dieses Land seit 1930 abermals verändert hat: »Der Sprung nach vorn ist erstaunlich. Ein Jahrhundert, das 19. Jahrhundert, wurde übersprungen, und wie immer bei einer solchen gewaltsamen Entwicklung, sind Fehlleistungen unvermeidlich. Was ist seit Kisch erreicht worden? Der Analphabetismus wurde beseitigt, das Land für den Verkehr erschlossen, die Basis zu einer Industrialisierung gelegt, die sich schnell und in großem Umfang entwickelt, weite Steppengebiete wurden kultiviert.«