Zentralasien am Vorabend der Araberinvasion (3.-8. Jh.)

Im Gegensatz zu den schriftlichen Quellen über das vorislamische Zentralasien ist das aus den Jahrhunderten zwischen der Kuschanzeit und der Araber-Invasion stammende archäologische Material so umfangreich, dass im Folgetiden nur einige wenige Fundstatten von besonderer Aussagekraft herausgestellt werden können, um verschiedene Stufen in der Entwicklung der Kultur Zentralasiens aufzuzeigen.

Achämeniden, Griechen, Parther, Kuschan, aber auch Völker der Steppen waren in den vorangegangenen Jahrhunderten in die weiten Gebiete südlich und nördlich des Amu Darja eingedrungen und hatten die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung des Landes und der Bevölkerung gemäß ihren eigenen Vorstellungen nachhaltig geprägt. Nach dem Untergang des Kuschanreichs jedoch kam in ganz Zentralasien ein sich über Jahrhunderte hinziehender Prozess in Gang, in dessen Verlauf bedeutende Herrschaftsgebiete und Siedlungsraume völlig auseinanderbrachen. Blühende Städte, wie z. B. Toprak Kale, gerieten mehr und mehr in Verfall, und die für eine funktionierende Wirtschaft unabdingbaren Bewässerungssysteme versandeten, da ihre Wärter abgewandert waren – ein circulus vitiosus, der zur Aufgabe selbst Großer Siedlungsraume  führte. Die Bevölkerung – einst im Verband einer ganzen Sippe auf engem Raum zusammenlebend (z. B. in den Wohnmauer-Siedlungen von Kalaly-Gir), dann in Großfamilien aufgeteilt, die einzelne Hauser bewohnten (z. B. Ajas Kale) – hatte sich jetzt in einzelne, mehrere hundert Meter voneinander entfernte. befestigte Gehöfte zurückgezogen, die entlang eines Kanals über ein Gebiet von vielen Quadratkilometern verstreut waren. Dieser Zerfallsprozess der Nachkuschanzeit war aber nicht nur für Choresm symptomatisch, sondern auch für Sogd, das Sarafschan-Tal, das Gebiet am Wachsch und das Siebenstromland.

So entstanden im Lauf der Jahrhunderte in ganz Zentralasien unzählige festungsähnliche Anlagen: Adelsburgen und Kleinfürstentümer, die zwar selbständig, politisch aber gänzlich bedeutungslos waren und immer wieder zum Spielball fremder Mächte wurden. Wiederholt wurden ganze Generationen ausgelöscht oder in ihrer kulturellen Entwicklung gelahmt und bedeutende, in Jahrhunderten gewachsene Kulturzentren zerstört.

Der erwähnte Wandel im Leben der zentralasiatischen Völker, der u.a. die Entstehung neuer Siedlungsformen zur Folge hatte, kann aufgrund der erzielten Grabungen und Funde recht anschaulich nachvollzogen werden. Wie eine Kette zogen sich die isoliert angelegten Burgen durch ganz Zentralasien – Festungen, die sich über eine Fläche von 1 ha erstreckten, aber auch relativ kleine Bauwerke

von nur einigen hundert Quadratmetern. In ihrem Aufbau waren diese Anlagen einander sehr ähnlich: Gehöfte und ein in der Regel auf hohem Sockel und künstlich aufgeschüttetem Hügel errichteter Wohnturm (Donjon) im Schutz einer hohen Pachsa-Mauer. Teschik Kale im Gebiet Choresm z. B. war im 6.-7. Jh. offensichtlich Wohnsitz eines Vertreters der choresmischen Aristokratie, eines dechkan, zeichnen sich doch Innen- und Außenwände durch einen besonders reichhaltigen Schmuck aus: Halbsäulen, Friese mit Ornamenten wie Palmetten und Sternrosetten (Moliven aus der Achämenidenzeit). Eine große Zahl von Münzen, Keramik und Siegelabdrücken – Muster der choresmischen Steinschneidetechnik – lassen deutlich den Einfluss der Kuschankunst erkennen, wobei die Abbildung einer vierarmigen weiblichen Gottheit (Anahita, die choresmische Gottin der Fruchtbarkeit?) ein besonders gutes Beispiel für die Vermischung der Religionen, hier mit dem Buddhismus, in Zentralasien darstellt.

Weitere erwähnenswerte Burgen, die in diese Zeitperiode gehören, sind Ak Tepe, ein quadratisches Bauwerk ohne Fenster mit einem umlaufenden Korridor – ein kuschk  –  unweit von Taschkent, oder auch Kale-je Mug, eine Festung im Sarafschan Tal, wo im Jahr 1933 ein Archiv mit wertvollen Handschriften in sogdischer Sprache entdeckt wurde – Dokumente des Diwastitsch (722), des letzten Herrschers von Pendschikent.

Auch nördlich von Termes konnten einige interessante sogdische Festungen freigelegt werden, von denen Balalik Tepe, eine relativ kleine Anlage (30 x 30 m) aus dem 5.-7. Jh., besonders interessant ist. Von den 15 Räumen, die sich in der Burg befanden, erwies sich ein kleines Zimmer (4,85 x 4,85 m) im Zentrum – offensichtlich der Empfangsraum wegen seiner künstlerischen Ausstattung als eine archäologische Kostbarkeit: Hier fand man großangelegte Wandmalereien, auf denen eine festliche Tafelrunde dargestellt ist. Die prächtigen, bunten und reich verzierten Gewänder der 47 Gäste zeigen eine Vielzahl von Motiven, die einen starken sassanidischen Einfluss erkennen lassen. Besonders auffallend an der Kleidung, die in ihrer Form und ihrem Stil auf enge Beziehungen nach Bamijan, einem buddhistischen Kunstzentrum im nordlichen Afghanistan hinweist, ist der breite Rockaufschlag des Kaftans. Die Art, wie die einzelnen Figuren einander zugeordnet sind – übereinander geschoben -, sowie die scharfe Linienführung sprechen aber für einen eigenständigen Stil von Balalik.

Wandmalereien aus vorislamischer Zeit (etwa 5. Jh ), die ebenfalls einen stark buddhistischen Einfluss erkennen lassen, konnten in Kale-je Kachkachka, im ehemaligen Palast von Schahristan (Bundshiket) – etwa 90 km südwestlich von Chodschand – freigelegt werden. In ihrem Aufbau gliedern sich die mehrere hundert Quadratmeter großen Malereien in verschiedene Bereiche unterschiedlicher Große. Die Bilder. die z. B. auf einem Korridor gefunden wurden, zeigen Szenen aus dem Leben der Steppenvölker (u. a. einen Tierarzt bei

der Behandlung eines Pferdes) sowie aus dem Sagenkreis der westtürkischen Nomadenstamme: beispielsweise eine aus dem byzantinischen Raum bekannte und vielleicht kopierte Darstellung der römischen Wölfin mit den zwei Knaben – ein möglicher Hinweis, dass sich das religiöse Denken der Türken nach Verdrängung des Buddhismus wieder dem Totemismus zuwandte, in dem gerade dem Wolf – ihrem Totemtier höchste Verehrung zuteilwurde. Eine andere Gruppe der Wandbilder, die als rein sogdisch angesehen werden können, enthalt Motive aus Heldensagen: Darstellungen von gepanzerten Kriegern und Streitwagenlenkern – Parallelen zu den Malereien in Warachscha und Pendschikent. Die in einem als Kapelle zu bezeichnenden Raum gefundenen Malereien. vielfarbige Bilder auf ultramarinblauem Grund, vergegenwärtigen einen eigenartigen, aber doch zoroastrisch geprägten Kult. Sie scheinen das Ergebnis einer über einen längeren Zeitraum andauernden Entwicklung zu sein.

Adschina Tepe im Wachsch-Tal, 17 km östlich von Kurgan-Tjube (Tadschikistan), ist bis heute eines der wichtigsten Denkmaler des Buddhismus in Zentralasien. Die im Jahr 1960 begonnenen Ausgrabungen legten in einem Bereich von 100 x 50 m Reste eines buddhistischen Klosters und Tempels frei. Gebäude aus Großen ungebrannten Lehmblocken (pachsa und adoben).  Charakteristisch für die Architektur von Adschina Tepe sind die vier Iwane, die sich auf den zentralen Innenhof öffnen eine Anlage, die die Medrese in der islamischen Zeit wieder aufgreifen wird (vgl. B. A. Litvinskij). In der Mitte eines Innenhofes, der aus rechtwinklig aufeinanderstoßenden Korridoren gebildet wurde, erhob sich ein in Stufen angelegter und von Statuen umgebener Stupa.

Zu den bedeutendsten Funden von Adschina Tepe gehören neben Wandmalereien, von denen jedoch nur geringe Überreste erhalten sind, die Tonskulpturen: Buddhaköpfe, Bodhisattvas-Torsi, dämonische Wesen; Figuren von unterschiedlichen Abmessungen, die größte eine 13 m lange Kolossalstatue des Buddha im Nirwana. Auch die aus Ton geformten Skulpturen, auf denen noch Reste einer Bemalung zu erkennen sind, bestätigen, dass es zwischen den verschiedenen lokalen Kunstzentren wie Adschina Tepe, Balalik Tepe, Kara Tepe und Gandhara sowie Afghanistan (Bamijan, Fondukistan) enge Kontakte gegeben haben muss.

In Ak Beschim, einer etwa 35 ha großen Stadt 80 km östlich von Bischkek in Kirgistan, wurden Ruinen buddhistischer Gotteshäuser und einer christlichen Kirche gefunden, Bauwerke, die alle aus dem 7. und 8.Jh. stammen. Zu den wichtigsten gehört ein außerhalb der Stadt liegender buddhistischer Tempel auf einem 76 x 22 m Großen Areal. An den Längsseiten des Innenhofes, der von einer massiven Mauer umgeben war, befanden sich Säulengange mit Überdachungen in Iwan-Form, die augenscheinlich von Holzpfeilern getragen wurden. Das Zentrum des Tempels bestand aus einer rechteckig angelegten, auf einem Stylobat ruhenden Saulenhalle (18 x 10m), in deren Mitte sich das Allerheiligste befand. Alle Räume waren mit Wandmalereien und Stuckreliefs ausgeschmückt. und auf Säulen standen metallene Statuen. Ein zweiter, kleinerer Tempel von quadratischem Grundriss (38 x 38 m) mit einem in Kreuzform angelegten Heiligtum war Fundort zahlreicher z.T. gut erhaltener Tonskulpturen, einschließlich eines besonders Großen Buddhaköpfes. Ebenfalls kreuzförmig und beispielhaft für die frühsyrische Architektur war der Grundriss einer kleinen, nur 25 m2 großen christlichen Kapelle innerhalb der Stadt, die offensichtlich Eigentum einer nestorianischen Gemeinde war. Anfang des 11. Jh. jedoch wurde sie von dem Samaniden Ismail in eine Moschee umgewandelt.

Buddhistische Kloster und Tempel, die heute unter der Stadt begraben sind, hat es wahrscheinlich auch in Buchara gegeben, der Stadt, die sich nach der Eroberung durch die Araber zu einem herausragenden Zentrum des Islam entwickeln sollte. Schließlich ist im Zusammenhang mit dem Buddhismus in Zentralasien auch noch Merw bzw. Giaur Kale zu erwähnen, wo es bereits zur Zeit der Parther ein buddhistisches Heiligtum gegeben hat: Nördlich eines im Zentrum stehenden Stupas befand sich eine große Buddhaskulptur aus Ton, deren Kopf eine Hohe von 75 cm hatte.

Aber auch Bauten anderer Religionsgemeinschaften konnten in Merw nachgewiesen werden: so eine nestorianische Kirche, die bereits im 4.Jh. Bischofssitz war, und ein zoroastrischer Grabbau, der im Bereich der alten Stadt entdeckt wurde. Gerade die im Lauf der letzten Jahrzehnte freigelegten Ruinen lassen immer wieder erkennen, dass es in Zentralasien in der vorislamischen Epoche keine einheitliche offizielle, von einem Herrscher geschätzte Religion gegeben hat – im Gegensatz zum Iran (Zoroastrismus) und zu Byzanz (Christentum) – und dass sich neben der weit verbreiteten Lehre Zarathustras bereits sehr früh auch andere Religionen behaupten konnten.

Die zahlreichen Ausgrabungen (s. Reisewege), oftmals nur Ruinen, die überwiegend erst nach 1945 entdeckt und teilweise sorgfältig rekonstruiert und konserviert wurden, vermitteln heute einen hervorragenden Einblick in das Leben der Völker Zentralasiens in vorislamischer Zeit. Sie belegen, dass sich hier selbst in Zeiten der Unterdrückung und Zersplitterung eine hochstehende Kunst und Kultur entwickeln konnte, in den neben eigenständigen örtlichen Stilformen auch neuen Komponenten ihren Niederschlag gefunden haben. Sie bestätigen aber auch. dass sich neben dem überlieferten Feuerkult und den miteinander wetteifernden Weltreligionen, wie dem Christentum und Manichäismus, der Buddhismus bis in das frühe Mittelalter behaupten konnte. Denn solange der Islam noch nicht die Anziehungskraft entwickelt hatte, die ihn später sogar zu einer der fünf großen Weltreligionen erheben sollte, wurden alle diese Religionen offensichtlich noch weitestgehend toleriert. Am Ende des 7. Jh.. als die Araber den Oxus überschritten, war Zentralasien kein leerer Raum, sondern ein Land, dessen Völker in der Lage waren, eigene künstlerische Traditionen zu entwickeln und Kunstwerke zu schaffen, die weder mit denen des Iran noch mit denen Indiens oder Chinas identisch waren – eine Kultur, die auch unter dem Einfluss des Islam zu höchsten Leistungen fähig sein sollte.