Das Kuschanreich (1. Jh. v. Chr. – 3. Jh. n.Chr.)

Nachdem Mao-tun (206-165 v. Chr.) das Reich der Hunnen an der mongolisch-chinesischen Grenze gegründet, die Nachbarstamme (Kitan, Tungusen, Sien-pi) unterworfen und sich zum Kaiser der Steppenvölker gemacht hatte, zog er gegen die in der Provinz Kansu siedelnden Tocharer, einen nordiranischen Nomadenstamm (chin.: Yüe-tschi), und trieb sie gen Westen. Auf ihrem Weg vorbei am Issyk-Kul stießen die Yüe-tschi auf die Saken und drängten diese nach Süden ab. Unter dem Druck der Hunnen eroberten die Yüe-tschi das Gebiet von Ferghana, wo es ihnen unter Mithilfe der einheimischen Bevölkerung gelang, Zentralasien von der griechischen Herrschaft zu befreien. Am Amu Darja hatten sie eine neue Heimat gefunden und hielten auch Sogd und Baktrien besetzt. Fünf hier siedelnde Sippen der Yüe-tschi teilten schließlich Baktrien unter sich auf, und ihre Fürsten regierten eigenständig das von ihnen besetzte Land.

Nach etwa hundert Jahren, zu Beginn der christlichen Zeitrechnung, erhob sich jedoch die Sippe der Kuei-schuang über die anderen Fürstenhäuser und gründete in den Oasen des Sarafschan das Kuschanreich, das neben China, dem römischen Reich und dem Reich der Parther-vornehmlich unter seinem legendären Herrscher Kanischka – zu den größten der damaligen Welt aufrücken sollte.

Durch missionarischen Eifer angetrieben, konnte sich gerade unter der Kuschan-Dynastie der Buddhismus als Staatsreligion von Nordindien aus in Zentralasien ausbreiten. wovon nicht wenige Ruinen von Klöstern und Tempeln sowie Funde von buddhistischen Texten – u.a. auf sakisch, sogdisch, tocharisch – Kunde geben. Unverfälscht, aber auch in zum Teil recht unterschiedlichen Mischformen – als polytheistische Religion z. B. – sollte der Buddhismus über Jahrhunderte eine religiöse Kraft Zentralasiens werden, ohne jedoch die alten Volksreligionen oder den Zoroastrismus und später auch den Manichaismus und Nestorianismus vollständig ausschalten zu können.

Besondere Verdienste haben sich die Kuschan durch die Herstellung von bedeutenden Handelsverbindungen zwischen dem Fernen Osten und dem Westen sowie zwischen den eurasischen Steppen und Indien erworben, die im Wesentlichen über die Große Seidenstraße abgewickelt wurden. In ihrer kulturellen Entfaltung stützten sich die Kuschan einerseits auf die örtlichen Kulturen, die zuvor weitgehend dem hellenistischen Einfluss unterworfen waren. andererseits übernahmen und verwendeten sie aber auch neue, fremde Elemente aus ihrem indischen Erbe. Somit stellt sich gerade die Kuschankunst als das Ergebnis einer Entwicklung dar, die ihre Impulse verschiedenen – ideologischen, politischen und/oder wirtschaftlichen – Faktoren zu verdanken hatte.

Die Kuschan wiederum haben ihrerseits einen ganz entscheidenden Beitrag zur Kunstentwicklung in Zentralasien geleistet. Zu den bedeutendsten Denkmalern ihrer Kunst gehört der im Jahr 1932 am Amu Darja oberhalb von Termes entdeckte Airtam-Fries, der berühmte Musikantenfries. Auf dem etwa 0,5 m breiten und 7 m langen Fries, einer Mergelkalkstein-Platte, sind Büsten von männlichen und weiblichen Musikanten und Gabenbringern dargestellt, die aus einem Rand von Akanthusblättern herausragen – ein in der Gandharakunst oft zu beobachtendes Motiv. Welche Funktion der vermutlich in einer baktrischen Bildhauerstadt hergestellte Fries einmal gehabt hat – Teil eines buddhistischen Tempels? – ist nicht bekannt.

Die wohl wichtigste Station der Kuschanzeit befindet sich bei Chaltschajan am Surchan Darja im Süden Usbekistans, wo ein Verhältnismäßig kleines, aber doch gut erhaltenes Gebäude im Stil eines Palastes freigelegt werden konnte, das von seiner rechteckigen Anlage her der achämenidischen Bauweise entspricht. Es bestand aus einem sechssäuligen Iwan mit fünf Nischen, an den sich eine längliche Halle und Wohnraume (?) mit Verbindungstären anschlossen. In einer Halle fand man Steinbasen für Holzsäulen, die die Dachkonstruktion – aus Balken und gebrannten Ziegeln trugen.Die Wände des Iwan und der Halle waren mit Tonskulpturen geschmückt – Flach- und Hochreliefs, zum Teil aber auch Plastiken, die die verschiedensten Themen und Motive zum Inhalt hatten: Darstellungen der klassischen Gotter (z. B. Apollon, Athene), aber auch von Personen, die offensichtlich der cinheimischen Bevölkerung angehörten: Musiker, Mädchen, Tanzer u.a. Daneben gab es noch plastische Kompositionen, die – wie in einer Bildreportage – bestimmten Personengruppen oder Ereignissen gewidmet waren: die Königsfamilie mit ihren Schutzgöttern, eine kultische Handlung, eine Reiterszene, Krieger. Besonders auffallend sind hier die Parallelen zu den figürlichen Darstellungen von Toprak Kale, Nisa oder Dura-Europos und eine sicher nicht zufällige Übereinstimmung zwischen dem modellierten und dem von Plutarch beschriebenen Portrait eines Kriegers.

Das umfangreiche Material von Chaltschajan, zu dem auch Fragmente einer Wandmalerei (Kinderkopfe und verschiedene Ornamente), Tongeschirr, Werkzeuge und Münzen gehören, ist für die Geschichte der Kuschankunst vor allem deshalb von Bedeutung, weil gerade in der Monumentalskulptur eine ganz spezifische Stilrichtung ihren Ausdruck findet: die dynastische oder auch weltliche Kunst (im Gegensatz zur buddhistischen Tempelkunst), die sich dadurch auszeichnet, dass die dem Kult der Kuschanherrscher geweihten Skulpturen eine besonders feierliche Ausdrucksweise erkennen lassen, wobei den äußeren Zeichen königlicher Macht Mantel, Schwert, Zepter – mehr Beachtung geschenkt wird als der eigentlichen Person.

Mehrere buddhistische Kloster und Denkmaler, die unweit von Termes gefunden wurden, sind sicher ein Beweis für die Bedeutung und Ausbreitung des Buddhismus in Zentralasien während der Kuschanzeit. Besonders erwähnenswert sind hier das Hohlenkloster von Fajas Tepe und – bereits aüberhalb der alten Stadtmauer auf einem Hägel die Anlage von Kara Tepe.

Da friedhofsähnliche Anlagen bei einer sesshaften Stadtbevölkerung bis jetzt nur selten nachgewiesen werden konnten, stellt die Nekropole von Tupchane westlich von Duschanbe eine archäologische Besonderheit dar, ist sie doch der einzige bekannte Friedhof aus gräko-baktrischer Kuschanzeit. Die mit Luftziegeln überdachten Gräber, in denen die Toten auf dem Rücken liegend bestattet waren,

enthielten verschiedene Grabbeigaben wie Schmuck, Spiegel, oftmals auch Münzen, die den Totcn auf die Brust oder in den Mund gelegt wurden (ein bei den Griechen üblicher Brauch: der Obolus für den Fahrmann Charon). Zu dieser Zeit war es aber auch noch Sitte, nur die von den Tieren  übriggelassenen Knochen der Verstorbenen in Ossuarien zu bestatten; ein Fortschritt. wenn man an den Bericht des griechischen Schriftstellers Arianus (2. Jh. n. Chr.) denkt, demzufolge es nicht unüblich war. die Toten einfach der Natur zu überlassen.

Mit dem Angriff der Sassaniden und einem erneuten Eindringen von Nomadenstammen turko-mongolischen Ursprungs – im Zusammenhang mit der ausgedehnten, bis nach Europa reichenden Volkerwanderung – begann Mitte des 3. Jh. der Untergang des Kuschanreichs. Zur gleichen Zeit steuerte aber auch das Reich der Parther seinem Untergang entgegen. Streitigkeiten innerhalb des Landes und Angriffe von außen machten es Ardaschir I. (224-41 n. Chr.) – einem Vasall des letzten Parther Königs Artabanos IV – leicht, die Macht ansichzureißen. Als Herrscher über den Iran hatte er 224 n. Chr. das (nach seinem Großvater Sassan aus dem Stamme der Frataraka benannte) Reich der Sassaniden gegründet.